Richard Krauss
23. Juli 2024
Politikwissenschaftliche strategische Schachzüge aus München
MÜNCHEN : CSU-Chef Markus Söder sieht eine mögliche Koalition der CDU mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) nach den Wahlen im Osten als realistisch an. In einem Bericht von BR24 betont er, dass die Brandmauer gegen die AfD bestehen bleiben müsse, weshalb eine Zusammenarbeit mit dem BSW als weniger problematisch betrachtet werde.
Söder erkennt inhaltliche Überschneidungen zwischen der AfD und dem BSW, wobei er den Hauptunterschied im fehlenden "Hoch-Aggressionspotenzial" des BSW sieht. Das BSW definiere sich stärker über soziale Themen, während die AfD deutlich aggressiver agiere. Vor diesem Hintergrund fand eine CSU-Vorstandsklausur in München statt, bei der Strategien gegen extreme Parteien erörtert wurden.
Bei näherer Betrachtung offenbaren sich deutlich Widersprüchlichkeit und Diffenzen in Söders Aussage in fast allen Politikfeldern und Positionierungen der beiden Parteien:
Diese Differenzen betreffen zentrale innen- und außenpolitische Bereiche. Wirtschaftspolitisch setzt die CSU auf marktwirtschaftliche Prinzipien, unterstützt Unternehmensfreundlichkeit und fordert eine geringe Steuerlast. Diese Politik soll wirtschaftliches Wachstum und Innovation fördern. Im Gegensatz dazu plädiert das Bündnis Sarah Wagenknecht für stärkere staatliche Kontrolle und Eingriffe in die Wirtschaft. Höhere Steuern auf hohe Einkommen und Unternehmen sollen zur Finanzierung umfassender sozialer Programme genutzt werden.
In der Migrationspolitik verfolgt die CSU eine strenge Linie, die auf Kontrolle und Sicherheit fokussiert ist. Demgegenüber befürwortet die BSW eine humane und integrative Migrationspolitik, die stark auf Menschenrechten basiert. Diese unterschiedlichen Ansichten würden in der Praxis zu erheblichen Konflikten führen und eine einheitliche Strategie verhindern.
Außenpolitisch tritt die CSU für eine starke EU ein, die auf Zusammenarbeit und Integration setzt, um Frieden und Wohlstand zu sichern. Im Gegensatz dazu kritisiert das Bündnis Sarah Wagenknecht die derzeitige neoliberale Ausrichtung der EU und fordert Reformen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger Zentralisierung. Diese konträren Visionen für die Zukunft Europas erschweren eine gemeinsame Außenpolitik erheblich.
Auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestehen erhebliche Differenzen. Die CSU unterstützt eine starke Verteidigungspolitik und die NATO-Mitgliedschaft als Grundpfeiler der nationalen Sicherheit. Die BSW plädiert hingegen für eine friedliche Außenpolitik und lehnt militärische Interventionen kategorisch ab. Diese unterschiedlichen Ansätze zur Sicherheitspolitik würden eine kohärente gemeinsame Strategie verhindern.
In der Klimapolitik setzt die CSU auf marktwirtschaftliche Lösungen und technologische Innovationen, um den Klimawandel zu bekämpfen, ohne die Wirtschaft zu belasten. Das Bündnis Sarah Wagenknecht fordert hingegen drastische Maßnahmen und starke staatliche Eingriffe zur Durchsetzung strenger Umweltstandards. Diese unterschiedlichen Ansätze zur Balance zwischen Klimaschutz und Wirtschaftswachstum verhindern eine gemeinsame Klimapolitik.
Die Sozialpolitik der CSU betont die Bedeutung einer sozialen Marktwirtschaft, die auf Eigenverantwortung und staatliche Unterstützung im Bedarfsfall setzt. Die BSW hingegen plädiert für eine umfassende Umverteilung von Reichtum und stärkere staatliche Eingriffe zur Bekämpfung sozialer Ungleichheiten. Diese unterschiedlichen Auffassungen über den Umfang staatlicher Sozialleistungen und wirtschaftlicher Umverteilung machen eine gemeinsame sozialpolitische Agenda schwer vereinbar.
In der Bildungspolitik befürwortet die CSU ein duales Bildungssystem und eine starke berufliche Ausbildung, während die BSW kostenlose Bildung von der Kita bis zur Universität und stärkere staatliche Investitionen in Bildungseinrichtungen fordert. Diese unterschiedlichen Ansichten über die Finanzierung und Struktur des Bildungssystems stellen ein weiteres Hindernis dar.
Auch in der Wohnungspolitik bestehen erhebliche Unterschiede. Die CSU setzt auf private Investitionen und marktwirtschaftliche Mechanismen zur Regulierung des Wohnungsmarktes. Die BSW fordert eine starke staatliche Rolle im Wohnungsbau, einschließlich Mietpreisdeckel und öffentlichem Wohnungsbau. Unterschiedliche Ansätze zur Lösung der Wohnraumproblematik machen eine gemeinsame Wohnungspolitik schwer vorstellbar.
Steuerpolitisch plädiert die CSU für niedrige Steuern zur Förderung von wirtschaftlichem Wachstum und Innovation. Im Gegensatz dazu setzt sich die BSW für höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen ein, um soziale Programme zu finanzieren und Ungleichheiten zu verringern. Grundlegende Differenzen in der Besteuerungspolitik und der Rolle des Staates in der Umverteilung von Reichtum machen eine gemeinsame Steuerpolitik unmöglich.
So stellt sich die Frage der Motivation und der politischen Absicht von Söders angedachter Koalitionsoption:
Aus der Perspektive der Rationalen Wahltheorie lässt sich Söders Vorgehen als ein Versuch interpretieren, die politische Macht der CDU/CSU zu maximieren. Indem er das BSW als potenziellen Koalitionspartner in Erwägung zieht, positioniert sich die CSU als eine flexible und pragmatische Kraft, was in der zunehmend fragmentierten politischen Landschaft Deutschlands strategische Vorteile bringt. Diese Flexibilität könnte als Signal an die Wählerschaft gedeutet werden, dass die Partei bereit ist, unkonventionelle Bündnisse einzugehen, um die politischen Extrempositionen der AfD zu isolieren und die eigene Regierungsfähigkeit zu sichern.
Berücksichtigt man ergänzend Medianwählertheorie wird deutlich, dass Söder möglicherweise darauf abzielt, die CDU/CSU näher an den Medianwähler zu rücken. Indem er eine moderate Alternative zur AfD anbietet, spricht er Wähler an, die zwar unzufrieden mit der etablierten Politik sind, jedoch radikale Lösungen ablehnen. Diese Taktik stärkt die politische Mitte und könnte dazu beitragen, die CDU/CSU als stabile und zukunftsorientierte Kraft zu etablieren, die in der Lage ist, pragmatische Lösungen zu bieten.
Medianwähler sind "hypothetischen Wähler", die in der Mitte des politischen Spektrums stehen. Sie sind insofern von besonderer Bedeutung, als dass genau die Hälfte der Wähler eine konservativere und die andere Hälfte eine liberalere Position als er selbst einnimmt. Ein zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist das Medianwählertheorem, das besagt, dass in einem Mehrheitswahlsystem die Position des Medianwählers entscheidend ist.
Politische Parteien und Kandidaten, orientieren daher ihre Programme häufig an den Präferenzen dieses mittleren Wählers. Dies führt in der Regel zu einer Zentrierung der politischen Angebote. Der Medianwähler repräsentiert somit einen moderaten Standpunkt und nicht die extremen Positionen innerhalb der Wählerschaft. In der Praxis bedeutet dies, dass politische Entscheidungen und Programme oft so gestaltet werden, dass sie die Interessen dieses mittleren Wählers berücksichtigen, um eine Mehrheit der Stimmen zu gewinnen.
Weiterhin kann Söders Vorgehen im Lichte der Strategie der Umzingelung (Encirclement Strategy) betrachtet werden. Durch die öffentliche Diskussion einer möglichen Zusammenarbeit mit dem BSW könnte Söder versuchen, die AfD zu isolieren und ihre Wählerschaft zu spalten.
Diese Strategie zielt darauf ab, extremistische Parteien zu marginalisieren und ihre politischen Handlungsspielräume einzuschränken, indem sie ihnen potenzielle Koalitionspartner entzieht und die politische Mitte stärkt. Empirische Beobachtungen in anderen europäischen Ländern untermauern diese Analyse. Konservative Parteien in Ländern wie Österreich haben bereits Koalitionen mit Parteien am linken oder rechten Rand eingegangen, um ihre politische Macht zu konsolidieren.
Solche Präzedenzfälle illustrieren, dass ähnliche Strategien auch in Deutschland angewendet werden könnten, um stabile Regierungsbildungen zu gewährleisten. Diese internationalen Beispiele verdeutlichen, dass Söders Ankündigung Teil einer größeren politischen Taktik sein könnte, die darauf abzielt, die politische Landschaft zu stabilisieren und extreme Positionen zu marginalisieren.
Zusätzlich könnte Söders Äußerung als bewusste politische Kommunikationsstrategie verstanden werden, um die öffentliche Agenda zu beeinflussen. Indem er die Möglichkeit einer Koalition mit dem BSW in den Raum stellt, lenkt er die Aufmerksamkeit von den radikaleren Positionen der AfD ab und zwingt gleichzeitig andere politische Parteien, insbesondere SPD und Grüne, ihre Positionen klarer zu definieren. Dies könnte als Versuch interpretiert werden, die politische Debatte zu moderieren und auf pragmatischere Lösungsansätze zu fokussieren.